"Man hätte längst handeln müssen"

Präsident Berres im Interview mit der Allgemeinen Zeitung über die Praxis der kommunalen Finanzaufsicht

Das folgende Interview erschien am 1. März 2021 in der Allgemeinen Zeitung:

SPEYER. Heftige Kritik übt der rheinland-pfälzische Landesrechnungshof in seinem aktuellen Jahresbericht an der Finanzaufsicht über Kommunen durch die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion ADD. Präsident Jörg Berres erklärt, was sich ändern muss.

Herr Berres, welche Versäumnisse werfen Sie der ADD als obere Kommunalaufsicht vor?

Die ADD weist zwar regelmäßig darauf hin, dass jeder Verstoß gegen Haushaltsausgleichsgebot oder Überschuldungsverbot eine Rechtsverletzung darstellt. Dennoch sprach sie, wie es unser Jahresbericht belegt, bei nur drei von 162 defizitären Haushalten Beanstandungen mit rechtlicher Wirkung aus. Das betraf jeweils den Landkreis Kaiserslautern. In allen 159 weiteren Fällen wurde das unterlassen.

Verstehe ich das richtig: Die ADD stellt selbst die Rechtswidrigkeit eines Etats fest, schreitet aber nicht ein?

So ist es. Die ADD hätte rechtmäßiges Verhalten sicherstellen können oder sogar müssen. Nach so einer Beanstandung wären Kommunen verpflichtet, einen neuen, ausgeglichenen Etat zu beschließen. Tun sie dies nicht, kann die ADD das sogar anordnen.

Kann die ADD auch Kommunen verpflichten, zum Haushaltsausgleich Steuern zu erhöhen?

Die Kommunen entscheiden selbstständig, ob und welche Ausgaben bzw. Einnahmen sie mindern bzw. erhöhen. Kommt eine Kommune allerdings ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht nach, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, kann die Kommunalaufsicht in Ausnahmefällen letztlich auch eine Steuererhöhung anordnen.

Steuern erhöhen wollen die Kommunen aber nicht. Können Sie an konkreten Beispielen erläutern, wie sich das auswirkt?

Die Stadt Worms hatte seit 1992 keinen ausgeglichenen Haushalt und verzeichnete bis Ende 2019 263,5 Millionen Euro Liquiditätskredite. 2020 wurde dann der Hebesatz der Grundsteuer B um 30 auf 470 Prozentpunkte angehoben. Hätte man diesen gleich auf 531 Prozentpunkte erhöht, wäre das geplante Haushaltsdefizit von 2,1 Millionen Euro vermieden worden. Für einen Einfamilienhaus-Eigentümer wären das zusätzliche Mehrkosten von nur vier Euro monatlich gewesen. Die ADD wunderte sich über den rechtswidrigen Haushalt, ergriff aber keine Maßnahmen.

Handeln Kreise ähnlich?

Nehmen Sie den Rhein-Lahn-Kreis, der bis 2018 bilanziell überschuldet war. Der Landrat legte für 2021 einen ausgeglichenen Haushalt vor, der Kreistag aber senkte die Kreisumlage um einen Prozentpunkt und verursachte so ein Haushaltsdefizit von 1,5 Millionen Euro. Der Landrat schritt gegen diesen rechtswidrigen Beschluss nicht ein, auch die ADD sah von einer Beanstandung ab. Sie berief sich dabei auf ein Rundschreiben des Innenministeriums zur Corona-Pandemie. Von Forderungen nach Steuer- oder Umlageerhöhung soll demnach abgesehen werden. Anlass für die Umlagesenkung waren angeblich hoch verschuldete Gemeinden und katastrophale Waldzustände.

Die Kommunen wehren sich gegen Steuererhöhungen mit dem Argument, sie würden damit ihre Einwohner und Betriebe strangulieren. Zurecht?

Das Verwaltungsgericht Darmstadt hat 2019 bei der Stadt Offenbach keine Bedenken gegen einen Hebesatz der Grundsteuer B von 995 Prozent erhoben. Von diesen Realsteuersätzen sind die kreisfreien Städte in Rheinland-Pfalz noch weit entfernt. Sie hatten 2019 einen durchschnittlichen Hebesatz der Grundsteuer B von 449 Prozent. Das war der niedrigste Wert im Vergleich der Städte aller Flächenländer. Die Kommunen müssen ihre Einspar- und Einnahmemöglichkeiten besser ausschöpfen.

Die ungute Melange aus mangelnder Finanzaufsicht der ADD und mangelndem Sparwillen der Kommunen prangern Sie schon lange an. Warum tut sich nichts?

Letztendlich sind dazu politisch unbequeme Entscheidungen auf allen Ebenen notwendig. Es stimmt: Kommunen und Land hätten schon lange handeln müssen. Spätestens nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes aus 2015 müssen Kommunen ihre Haushalte zunächst mit eigenen Mitteln ausgleichen – im Rahmen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit. Oder sie müssen ihre Defizite auf das Unabweisbare reduzieren. Die Kommunen können nicht darauf verweisen, das Land müsse zuerst seine finanziellen Zuweisungen an sie erhöhen. Gleichzeitig betont der Rechnungshof, dass das Land – konkret das Innenministerium mit seiner Kommunalaufsicht die Rechts- und Finanzaufsicht über die Kommunen auch wirksam ausüben muss. Dies hat jüngst auch noch einmal der Verfassungsgerichtshof bekräftigt.

Was ist das Ergebnis dieser kollektiven Untätigkeit?

Letztlich sind durch das Nichthandeln bis 2019 rechtswidrig langfristige Liquiditätskredite für Konsumzwecke von über sechs Milliarden Euro aufgelaufen. Das ist für die Gegenwart bürgerfreundlich, aber diese Praxis geht zulasten künftiger Generationen.

Wer kann diese Spirale stoppen?

Nur die Landesregierung oder der Landtag können diese rechtswidrige Praxis der Kommunalaufsicht beenden.

Der Verfassungsgerichtshof hat im Dezember dem Land aufgetragen, den Kommunalen Finanzausgleich bis Ende 2022 neu zu regeln. Wird jetzt alles besser?

Das ist ein zentrales und wichtiges Urteil, weil es Land und Kommunen zum Handeln auffordert. Neben den Eigenanstrengungen der Kommunen und einer wirksamen Kommunalaufsicht muss das Land den Kommunen ausreichend Mittel zur Erfüllung der übertragenen Aufgaben zur Verfügung stellen.

Heißt das, die Kommunen bekommen künftig schlicht mehr Geld aus dem Landeshaushalt?

Das wird erst die Bedarfsermittlung zeigen. Auffällig ist, dass die Kommunen in Rheinland-Pfalz gegenüber dem Flächenländerdurchschnitt von 2016 bis 2018 für Soziales über 19 Prozent (331 Millionen Euro) mehr an Zweckzuweisungen erhalten haben, zugleich aber über 21 Prozent (515 Millionen Euro) weniger freie Finanzierungsmittel verfügten. Ferner hat der VGH notwendige Finanzmittel zur Tilgung der Altschulden angemahnt.

Das Interview führte Ulrich Gerecke.